BGH, Urteil vom 19.10.2016 – IV ZR 521/14
In seinem Urteil vom 19. Oktober 2016 – BGH IV ZR 521/14 hatte der BGH sich mit der Frage zu befassen, ob die Kausalität zwischen Unfallereignis und Gesundheitsbeeinträchtigung ausgeschlossen ist, wenn bei dem Versicherungsnehmer bereits vorbestehende und lang andauernde degenerative Veränderungen vorlagen und das Unfallereignis sich daher nur als sog. Gelegenheitsursache für die Gesundheitsbeeinträchtigung darstellt.
Die Klägerin begehrt von der Beklagten Invaliditätsleistungen aus einer bei ihr auf Grundlage der Allgemeinen Unfallversicherungs-Bedingungen (AUB 2000) unterhaltenen Unfallversicherung.
Die Klägerin, Übungsleiterin, gab beim Kinderturnen am 2.11.2009 einem Kind Hilfestellungen und kam dabei in einer Drehbewegung zu Fall und fing sich mit den Händen auf der Turnmatte ab. In der Folge verspürte die Klägerin starke Schmerzen im Rücken, welche sich so verschlimmerten, dass die Klägerin nicht mehr in der Lage war, auf dem linken Bein zu stehen. Nachdem sich die Schmerzen bis zu einer Ohnmacht ausgeweitet hatten, begab sie sich vom 5. bis 9.11.2009 in stationäre Behandlung. Dabei wurden im MRT bei L4/L5 eine Bandscheibenprotrusion und eine Spinalstenose festgestellt.
Die Klägerin machte Ansprüche aus der Unfallversicherung bei der Beklagten geltend. Ein daraufhin von der Beklagten beauftragte Gutachter kam zu dem Ergebnis, dass die Spinalkanalstenose bereits vor dem Ereignis bestanden haben müsse und der Bandscheibenvorfall keine Unfallfolge sei, weshalb die Beklagte die Leistungen ablehnte.
Der vom Landgericht bestellte Sachverständige stellte fest, dass die Funktionsbeeinträchtigungen der Klägerin nicht auf eine Bandscheibenprotrusion, sondern auf eine Facettengelenksarthrose zurückzuführen seien, die durch den Unfall nur aktiviert worden sei. Durch den Unfall sei es aber zu keiner richtungsweisenden Verschlimmerung gekommen. Die Klägerin behauptete, auch die Arthrose sei unfallbedingt.
Für die erlittene Minderung ihrer Erwerbsfähigkeit forderte die Klägerin von der Beklagten eine Invaliditätsentschädigung von 34.000 €.
Die Klage blieb in erster und zweiter Instanz erfolglos. Das Revisionsgericht hob das Berufungsurteil auf und wies es an das Berufungsgericht zurück.
Der erforderliche Kausalzusammenhang zwischen Unfallereignis und Gesundheitsbeeinträchtigung bestehe nach der Äquivalenztheorie, wenn der Unfall im Sinne einer conditio-sine-qua-non nicht hinweggedacht werden könne, ohne dass der Gesundheitsschaden entfiele. Dabei ist Mitursächlichkeit ausreichend (vgl. dazu Götz in Looschelders/Pohlmann, 3. Auflage 2016, § 178 Rn. 28). Das folge schon daraus, dass in Nr. 3 AUB 2000 bei der Mitwirkung unfallfremder Faktoren kein Ausschluss, sondern nur eine Anspruchsminderung entsprechend dem Mitwirkungsanteil vorgesehen sei.
Daneben müsse nach der Adäquanztheorie das Unfallereignis im Allgemeinen und nicht nur unter besonders eigenartigen, gänzlich unwahrscheinlichen und nach dem regelmäßigen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen zur Herbeiführung eines Erfolges der eingetretenen Art geeignet sein.
Allerdings nimmt ein Teil der Rechtsprechung und des Schrifttums an, dass ein adäquater Kausalzusammenhang entfalle, wenn die eingetretene Funktionsbeeinträchtigung auch auf degenerativen oder anlagebedingten Vorschäden beruhe, die bis zum Unfall noch keine Beschwerden ausgelöst haben, so dass jede andere Ursache die Gesundheitsschädigung ebenso gut hätte herbeiführen können und der Unfall, der in diesen Fällen häufig auch als „Gelegenheitsursache“ bezeichnet wird, nur einen unmaßgeblichen Anlass für die Beschwerden gesetzt habe (Götz in Looschelders/Pohlmann, 3. Auflage 2016, § 178 Rn. 43 f. m.w.N.).
Diese Auffassung teilte der BGH allerdings nicht.
Der Begriff der Gelegenheitsursache stamme aus dem Sozialversicherungsrecht, das nicht jede Mitwirkung genügen lasse, sondern für die Kausalität eine wesentliche oder richtungsgebende Mitwirkung verlange. Hingegen sei nach Auffassung des Senats die im privaten Unfallversicherungsrecht ausreichende Adäquanz schon bei einer nicht gänzlich außerhalb aller Wahrscheinlichkeit liegenden Mitwirkung gegeben. Daher schließe das Vorhandensein von Vorschäden für sich genommen die Kausalität nicht aus. Das Adäquanzerfordernis bezwecke nicht, die Folgen von Gesundheitsschädigungen, die nahezu ausschließlich durch die gesundheitliche Verfassung der Versicherungsnehmer geprägt seien, von vornherein vom Versicherungsschutz auszuschließen. Dies werde auch ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer entgegen der Auffassung der Beklagten auch dem Bedingungswerk nicht entnehmen können. Er werde vielmehr gerade aus der Regelung über die Mitwirkung von Krankheiten und Gebrechen an der durch den Unfall verursachten Gesundheitsschädigung schließen, dass er im Grundsatz auch dann Versicherungsschutz genieße, wenn Unfallfolgen durch eine bereits vor dem Unfall vorhandene besondere gesundheitliche Disposition verschlimmert worden seien. Zudem würde ein Ausschluss der Kausalität über die Figur der „Gelegenheitsursache“ die Beweislast des Versicherers für die Mitwirkung von Vorerkrankungen unzulässig auf den Versicherungsnehmer verlagern.
Die Kausalität des Unfallgeschehens für die Gesundheitsbeeinträchtigung der Klägerin wäre deshalb zu bejahen, wenn die bei dem Vorfall auf die Klägerin einwirkenden Kräfte die Aktivierung der zuvor klinisch stummen Facettengelenksarthrose bewirkt und damit die Dauerbeschwerden ausgelöst haben. Eine Mitwirkung des Unfallgeschehens stünde dann außer Frage. Das Berufungsgericht wird nun Feststellungen dazu treffen müssen, mit welchem Mitwirkungsanteil das Unfallgeschehen einerseits und die degenerative Vorschädigung andererseits zu dem Dauerschaden beigetragen haben, so dass eine Minderung der Leistung nach Nr. 3 AUB 2000 stattzufinden hätte.
Insgesamt ist die Entscheidung des BGH angesichts der divergierenden Rechtsprechung und Literatur aus Gründen der Rechtssicherheit zu begrüßen. Danach genügt es für einen adäquaten Kausalzusammenhang zwischen Gesundheitsbeeinträchtigung und Unfallereignis, dass das Unfallereignis an der eingetretenen Funktionsbeeinträchtigung mitgewirkt hat, sofern diese Mitwirkung nicht gänzlich außerhalb aller Wahrscheinlichkeit gelegen hat. Eine wesentliche oder richtungsgebende Mitwirkung ist anders als im Sozialversicherungsrecht nicht zu verlangen. Daher schließt das Vorhandensein von Vorschäden für sich genommen die Kausalität nicht aus.
Sarah Appelrath