BGH, Urteil vom 9.11.2022 – IV ZR 62/22 = NJW 2023, 366
Mit dem Urteil des IV. Zivilsenats des BGH vom 9. November 2022 wurde eine umstrittene Frage rund um die Absicherung von Elementarschäden im Bereich der Elementar- sowie Wohngebäudeversicherung geklärt. Streitgegenstand war die genaue Definition der Anforderung eines Erdrutsches aus versicherungsvertragsrechtlicher Sicht. Hierbei handelt es sich um einen Streitstand, der bereits in Rechtsprechung und Literatur ausgetragen wird.
I. Sachverhalt des Urteils
Das versicherte Grundstück des Klägers liegt am Rande einer aufgeschütteten Terrasse. Im Jahr 2018 zeigte dieser bei dem beklagten Versicherer eine Rissbildung an seinem Wohnhaus und seiner Terrasse an. Diese sei durch nicht augenscheinlich wahrnehmbare Rutschungen des Untergrundes von wenigen Zentimetern pro Jahr entstanden. Die daraus entstehenden Beseitigungskosten möchte der Kläger als Vorschuss aus seiner Wohngebäudeversicherung (WGB F 01/08) geltend machen. Der Versicherungsschutz deckt Schäden durch Elementargefahren, darunter Erdrutsche, ab. Einen Erdrutsch definieren die WGB F 01/08 in K7:
„Erdrutsch ist ein naturbedingtes Abgleiten oder Abstürzen von Gesteins- oder Erdmassen.“
In den Vorinstanzen (LG Bamberg, Urt. v. 18.3.2021 – 41 O 301/20; OLG Bamberg, Urt. v. 27.1.2022 – 1 U 127/21) war der Kläger erfolglos. Das Berufungsgericht lehnte das Leistungsbegehren mit der Begründung ab, es fehle bereits an einem Erdrutsch, da dieser gerade einen sinnlich wahrnehmbaren Vorgang beschreibe, der vorliegend nicht gegeben sei.
II. Der Streitstand in Rechtsprechung und Literatur
Im Wesentlichen geht es also darum, ob ein Erdrutsch versicherungsrechtlich eine sinnlich wahrnehmbare Bewegung des Erdreichs erfordert oder bereits ein allmähliches Vonstattengehen ausreichend ist. Ein Erdrutsch wird in den Bedingungswerken allgemein als ein naturbedingtes Abrutschen oder Abstürzen von Erd- oder Gesteinsmassen der Erdoberfläche definiert (Günther in Langheid/Wandt, VVG, Band 3 2. Teil 3. Kapitel Elementarschadenversicherung Rn. 76; Schneider in MAH VersR, § 6 Wohngebäudeversicherung Rn. 127). Eine genaue Umschreibung des Abrutschens oder Abstürzens fehlt hingegen. Aus der Rechtsprechung und Literatur gehen hierzu im Wesentlichen zwei Ansätze hervor.
1. Erdrutsch als sinnlich wahrnehmbares Ereignis
Teils, wie es auch im vorliegenden Fall das Berufungsgericht vertritt, werden die Begriffe als schnelle und zeitlich umgrenzte Erdbewegung verstanden, sodass der Erdrutsch für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer wahrnehmbar sein muss (LG Bamberg,Urt. v. 18.3.2021 – 41 O 301/20 = r+s 2021, 276, vgl. Schneider in MAH VersR, § 6 Wohngebäudeversicherung Rn. 131). Ein sich langsam ablösender Erdteil, gleich welcher Größe, werde erst dann zum Erdrutsch, wenn sich ganze Teile lösen und in Bewegung geraten (OLG Düsseldorf, Urt. v. 12. 7. 1983 – 4 U 247/82 = r+s 1986, 14; LG Bamberg, Urt. v. 18.3.2021 – 41 O 301/20 = r+s 2021, 276).
Dafür spreche der Wortlaut „Rutschen“, der zwar keine Plötzlichkeit fordere, doch jedenfalls eine nicht unwesentliche Erdbewegung (LG Bamberg, Urt. v. 18.3.2021 – 41 O 301/20 = r+s 2021, 276; Günther in Langheid/Wandt, VVG, Band 3 2. Teil 3. Kapitel Elementarschadenversicherung Rn. 77a). Der durchschnittliche und verständige Versicherungsnehmer interpretiere ein Rutschen schließlich nicht als allmählichen, länger andauernden und nicht wahrnehmbaren Vorgang (LG Bamberg, Urt. v. 18.3.2021 – 41 O 301/20 = r+s 2021, 276; Günther in Langheid/Wandt, VVG, Band 3 2. Teil 3. Kapitel Elementarschadenversicherung Rn. 77a). Sonst sei das Ereignis schließlich mit Worten wie „Kriechen“, „Bewegen“ oder „Verlagern“ zu beschreiben, die eine langsame und beständige Bewegung umschreiben (LG Bamberg, Urt. v. 18.3.2021 – 41 O 301/20 = r+s 2021, 276). Insbesondere die Geologie verwende für solche Vorgänge den Begriff des „Erdkriechens“ (OLG Bamberg, Urt. v. 27.1.2022 – 1 U 127/21).
Auch aus dem Vergleich mit anderen versicherten Elementarschäden, wie Lawinen, Überschwemmungen oder Vulkanausbrüche, erkenne der durchschnittliche Versicherungsnehmer, dass nur ein wahrnehmbares und zeitlich begrenztes Ereignis versichert sei (LG Bamberg,Urt. v.18.3.2021 – 41 O 301/20 = r+s 2021, 276; vgl. zur Erdsenkung OLG Nürnberg, Urt. v. 18. 6. 2007 – 8 U 2837/06 = r+s 2007, 329).
2. Erdrutsch als auch allmähliche, nicht sinnlich wahrnehmbare Bewegung
Andere verstehen unter einem Erdrutsch bereits ein allmähliches Bewegen des Erdreichs über einen größeren Zeitraum (OLG Koblenz, Beschl. V. 3.2.2014 – 10 U 1268/13 = VersR 2015, 67). Auf eine Wahrnehmbarkeit der Erdbewegung durch den Versicherungsnehmer wird mithin verzichtet. Dieser Auffassung schließt sich auch der BGH im gegenständigen Urteil an.
Maßstab für die Auslegung von Versicherungsbedingungen sei nach etablierter Rechtsprechung die Perspektive eines durchschnittlichen, um Verständnis bemühten Versicherungsnehmers bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs (vgl. BGH, Urteil vom 01.04.2015 – IV ZR 104/13 = VersR 2015, 617; BGH, Urteil vom 04.11.2020 – IV ZR 19/19 = VersR 2021, 21). Insoweit müsse bei der Auslegung der Versicherungsklauseln der alltägliche Sprachgebrauch berücksichtigt werden, sodass ein Verweis auf den Begriff „Erdkriechen“ der Geologie als unzulässiger Prüfungsmaßstab nicht herangezogen werden könne. Stattdessen erkenne der Versicherungsnehmer, dass der Begriff des Erdrutsches die Komponenten „Abstürzen“, im Sinne einer plötzlichen Bewegung, und „Abgleiten“ von Gesteinsmassen, eine Form des Haftverlustes mit Seitwärts- und Bergabbewegung, umfasse. Letztere Alternative sei gerade keine plötzliche oder sinnlich wahrnehmbare Erdbewegung. Gegenteiliges könne der Versicherungsnehmer insbesondere mangels Klarstellung in den Versicherungsbedingungen nicht erkennen. Auch aus der Definition des Erdrutsches als Bewegung von „Gesteins- oder Erdmassen“ müsse der Versicherungsnehmer nicht schlussfolgern, dass eine gewisse Geschwindigkeit erforderlich sei. Einen Kriechvorgang dürfe er mithin als umfasst ansehen.
Der systematische Vergleich des Berufungsgerichtes zu den übrigen versicherten Risiken, die ihrer Natur entsprechend häufiger plötzlich eintreten, sei nicht passend, da eine gleiche Auslegung des Erdrutsches nicht zwingend sei. Insbesondere gehe aus den Bedingungen nicht hervor, dass – mit Ausnahme des Vulkanausbruchs – die versicherten Naturereignisse gerade eine solche Plötzlichkeit voraussetzen.
Zwar hätte der BGH am 19. November 1956 (II ZR 217/55, VersR 1956, 789) den Begriff des Erdrutsches eng ausgelegt. Doch betreffe diese Entscheidung Risikoausschlussklauseln, die eng auszulegen und nicht vergleichbar mit primären Leistungsbeschreibungen seien.
III. Fazit
Der BGH hat also seinen Standpunkt zu einem lange ungeklärten Streit dargelegt. Seine Auslegung hält sich streng an die gefestigten Auslegungsprinzipien Allgemeiner Versicherungsbedingungen. Nach diesen schlussfolgert der Gerichtshof, dass eine sinnliche Wahrnehmbarkeit oder Plötzlichkeit der Erdbewegung nicht erforderlich und somit der Begriff „Erdrutsch“ weit auszulegen sei.
Luca Kupies