BGH Urteil vom 27.11.2024 – IV ZR 42/24 = NJW 2025, 438
Der BGH beschäftigt sich in seinem Urteil vom 27. November 2024 mit der Auslegung von Tarifbedingungen einer Krankentagegeldversicherung und der daraus resultierenden Frage, ob und mit welcher Reichweite, die Begriffe „Fluguntauglichkeit“ und „Arbeitsunfähigkeit“ gleichzustellen sind.
Der Kläger fordert im zugrundeliegenden Sachverhalt von der Beklagten, weitere Leistungen aus einer bestehenden Krankentagegeldversicherung mit einem versicherten Krankentagegeld iHv 434,69€ pro Kalendertag ab dem 43. Tag der Arbeitsunfähigkeit. Der Kläger erlitt im Januar 2017 eine Beinvenenthrombose und war deswegen ab dem 23. Januar 2017 arbeitsunfähig. Die Beklagte zahlte das vereinbarte Krankentagegeld, stellte die Zahlungen jedoch mit Ablauf des 25. Oktobers 2017 ein. Sie sehe sich nicht zu weiteren Leistungen gehalten, da der Kläger seine berufliche Tätigkeit im nachfolgenden Zeitraum nicht aufgrund eines medizinischen Befundes nicht habe ausüben können, sondern weil ihm lediglich das erforderliche Zeugnis des Luftfahrt-Bundesamts über die Flugtauglichkeit gefehlt habe. Das so genannte „Medical“ erhielt der Kläger erst am 4. Dezember 2017.
Im erstinstanzlichen Urteil (LG Frankfurt a.M. – 2/30 O 288/19) wurde der Klage überwiegend stattgegeben und die Beklagte zur Zahlung des Krankentagegeldes für den Zeitraum vom 26. Oktober 2017 bis zum 4. Dezember 2017 iHv 17.387.60€ verurteilt. Das Berufungsgericht (OLG Frankfurt a.M. – 7 U 96/20) änderte das erstinstanzliche Urteil auf die Berufung der Beklagten insoweit, dass die Klage hinsichtlich des zuerkannten Tagegeldes allein für den 4. Dezember 2017 abgewiesen wurde.
Auslegung von Absatz 3 der Tarifbedingungen zu § 1 MB/KT 2009
Das Berufungsgericht nimmt nach Auffassung des BGH zu Recht an, dass bis zu der Erteilung des sogenannten „Medicals“ die Fluguntauglichkeit des Klägers im Sinne der vertraglichen Klausel (Absatz 3 der Tarifbedingungen zu § 1 MB/KT 2009) bestand.
„§ 1 Gegenstand, Umfang und Geltungsbereich des Versicherungsschutzes. (…)
(3) Arbeitsunfähigkeit im Sinne dieser Bedingungen liegt vor, wenn die versicherte Person ihre berufliche Tätigkeit nach medizinischen Befund vorübergehend in keiner Weise ausüben kann, sie auch nicht ausübt und keiner anderweitigen Erwerbstätigkeit nachgeht.“
Die Tarifbedingungen zu § 1 MB/KT 2009 bestimmen unter anderem: „(3) Bei fliegendem Personal (Piloten, Kabine) ist Fluguntauglichkeit gleichbedeutend mit Arbeitsunfähigkeit.“
Allgemeine Versicherungsbedingungen seien grundsätzlich so auszulegen, wie sie ein durchschnittlicher, um Verständnis bemühter Versicherungsnehmer, bei verständiger Würdigung und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs verstehe. Es komme auf die Verständnismöglichkeiten ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und auch auf seine Interessen an. Werden Versicherungsverträge typischerweise mit einem und für einen bestimmten Personenkreis geschlossen, seien die Verständnismöglichkeiten und Interessen der Mitglieder des Personenkreises maßgebend Dabei sei in erster Linie von dem Bedingungswortlaut auszugehen. Der verfolgte Zweck sowie der Sinnzusammenhang der Klauseln seien heranzuziehen.
Die gegenständliche Klausel stelle also die Fluguntauglichkeit für fliegendes Personal mit bedingungsgemäßer Arbeitsunfähigkeit gleich und richte sich ausschließlich an einen eng begrenzten Personenkreis – Piloten und Kabinenpersonal – auf deren Sicht es bei der Auslegung ankomme. Das Gericht führt des Weiteren aus:
Ein Pilot […] darf die ihm erteilte Erlaubnis zum Führen oder Bedienen eines Luftfahrzeugs nach einer Einschränkung seiner flugmedizinischen Tauglichkeit nicht ausüben, bis er als Inhaber eines für Berufspiloten erforderlichen Tauglichkeitszeugnisses der Klasse 1 die Entscheidung eines flugmedizinischen Zentrums oder eines flugmedizinischen Sachverständigendarüber eingeholt hat, ob er imstande ist, seine Rechte weiter auszuüben.
Ein Versicherungsnehmer (VN), der sich mit diesem Wissen die Bedeutung der „Fluguntauglichkeit“ zu erschließen versucht, werde erkennen, dass die Gleichstellung von Fluguntauglichkeit und Arbeitsunfähigkeit dazu dienen soll, auch rechtliche Berufsausübungshindernisse bei Einschränkungen der flugmedizinischen Tauglichkeit zu erfassen. Es käme daher abweichend von § 1 III MB/KT 2009 nicht darauf an, ob der Versicherungsnehmer zur Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit auch nur teilweise in der Lage sei oder diese jedenfalls in Teilbereichen ausübe.
Durch diesen erkennbaren Sinnzusammenhang fühle sich ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer bestätigt, dass er iSd § 1 I MB/KT 2009 vor Verdienstausfall als Folge von Krankheiten oder Unfällen umfassend geschützt sei. Er werde daraus ableiten, dass das Leistungsversprechen des Versicherers auch für Folgen von Krankheiten oder Unfällen gelte, die ihn an der Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit hinderten, solange es an der benötigten feststellenden behördlichen Entscheidung zur Wiedererlangung der Flugtauglichkeit fehle. Insoweit werde und dürfe man die Klausel nach Ansicht des Gerichts dahingehend verstehen, dass sie jedenfalls auch die zeitliche Lücke zwischen dem Entfallen einer medizinischen Arbeitsunfähigkeit und/oder Flugtauglichkeit aus medizinischen Gründen und dem Wiedererlangen seiner Flugtauglichkeit infolge der Entscheidung durch die zuständige Behörde absichern sollte. Es bestehe bis zu dieser behördlichen Entscheidung für den Piloten Fluguntauglichkeit in Sinne der Klausel.
Der Begriff der „Fluguntauglichkeit“
Entgegen der Auffassung der Revision, die ausschließlich auf medizinische Kriterien abstelle und wonach es auf eine behördliche Feststellung für die Frage der Beendigung der Leistungspflicht des Versicherers nicht ankomme, macht der BGH deutlich: ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer verstehe mangels entsprechender Klarstellung im Bedingungswerk unter dem Begriff der „Fluguntauglichkeit“ nicht allein medizinische Kriterien. Das Gericht stellt auf den allgemeinen Sprachgebrauch ab und erläutert, wie das Adjektiv „untauglich“ in Bildung mit Substantiven lediglich zur Eignung für beschriebene Funktionen oder Tätigkeiten diene. Die Untauglichkeit könne somit auch auf der Nichteinhaltung rechtlicher Vorgaben beruhen.
Nach dem Sinn und Zweck der Krankentagegeldversicherung schütze diese den Versicherungsnehmer gegen Verdienstausfall als Folge von Krankheiten oder Unfällen. Somit ergebe es für den VN keinen Unterschied, ob er die berufliche Tätigkeit wegen fortbestehender gesundheitlicher Einschränkungen oder nur deshalb nicht ausüben könne, weil eine amtliche Bescheinigung zur Wiederaufnahme des Berufs notwendig sei. Der Kläger erleide in beiden Fällen einen Verdienstausfall, der ursächlich auf die krankheitsbedingte Einschränkung der flugmedizinischen Tauglichkeit zurückzuführen sei. Der BGH macht deutlich: wenn die Beklagte den Begriff der Fluguntauglichkeit ausschließlich nach medizinischen Kriterien hätte verstanden wissen wollen, hätte sie dies in der Tarifklausel unzweifelhaft klarstellen müssen. Das sei nicht erfolgt.
Eine weitergehende Beschränkung des Versicherungsschutzes ergebe sich auch nicht daraus, dass der Versicherungsfall nach § 1 II Hs. 2 MB/KT 2009 ende, wenn anhand eines medizinischen Befundes keine Arbeitsunfähigkeit und keine Behandlungsbedürftigkeit mehr bestünden. Diese Bestimmung beziehe sich auf den Versicherungsfall der „Arbeitsunfähigkeit“, der in § 1 III MB/KT 2009 eigenständig geregelt sei. Nach Auffassung des Gerichts führe die entscheidungsgegenständliche Klausel, die die Fluguntauglichkeit mit Arbeitsunfähigkeit gleichsetze, aus Sicht des durchschnittlichen VN jedoch nicht dazu, dass der Anspruch auf Krankentagegeld auf den Zeitraum zu begrenzen sei, in dem die flugmedizinische Tauglichkeit des Piloten nach ärztlicher Einschätzung und medizinischem Befund zu verneinen sei. Der BGH stimmt dem Berufungsgericht zu. Er erklärt, dieses habe richtig erkannt, dass der Versicherungsnehmer vor dem Hintergrund des ihm bekannten Verfahrens zur Feststellung der flugmedizinischen Tauglichkeit davon ausgehen durfte, dass es einer verbindlichen behördlichen Beurteilung dieser bedürfe.
Im Ergebnis hob der BGH hervor, dass der Versicherungsschutz nicht ende, wenn aus medizinischer Sicht keine Arbeitsunfähigkeit mehr vorliege, sondern erst, wenn aufgrund medizinischer Befunde keine Fluguntauglichkeit mehr gegeben sei. Dies führt der BGH auf die Gleichstellung in von Fluguntauglichkeit und Arbeitsunfähigkeit in der Klausel zurück. Für die Wiedererlangung der Flugtauglichkeit sei nicht nur die Heilung der Thrombose notwendig, sondern auch die behördliche Bescheinigung der Flugtauglichkeit durch das Luftfahrt-Bundesamt, welche der Kläger am 4. Dezember 2017 erhielt. Der BGH betont, dass ein Berufspilot ohne eine gültige Flugtauglichkeitsbescheinigung nicht fliegen dürfe und daher als arbeitsunfähig gelte. Er schließt sich somit den beiden vorherigen Instanzen an.
Lara Gartmann