BGH, Urteil vom 18.12.2024 – IV ZR 151/23 = VersR 2025, 229
In seinem Urteil vom 18. Dezember 2024 (IV ZR 151/23) befasst sich der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs mit der Inhaltskontrolle einer Klausel in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) einer D&O-Versicherung, die das Versicherungsverhältnis bei Stellung eines Insolvenzantrags automatisch beendet. Der Entscheidung ging ein insolvenzrechtliches Verfahren vor, in dem der Insolvenzverwalter einer AG Ansprüche aus einer D&O-Versicherung geltend machte, nachdem gegen frühere Vorstände teilweise Ersatzansprüche wegen Zahlungen nach Insolvenzreife durchgesetzt wurden.
Der BGH beurteilt die betreffende Beendigungsklausel als unwirksam nach § 307 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 BGB, da sie mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung in § 11 Abs. 1 und 3 VVG unvereinbar sei, welche zugunsten des Versicherungsnehmers bei einer ordentlichen Kündigung eine Mindestkündigungsfrist von einem Monat vorsieht.
Sachverhalt
Der Kläger, Insolvenzverwalter über das Vermögen einer Aktiengesellschaft, nimmt die beklagte Versicherung aus abgetretenem Recht auf Leistungen aus einer D&O-Versicherung in Anspruch. Die Versicherung war durch die AG und ein Vorstandsmitglied in den Jahren 2013 bzw. 2014 abgeschlossen worden. Sie folgte dem „Claims-made-Prinzip“, d.h. versichert sind Pflichtverletzungen, sofern innerhalb der Versicherungsdauer oder einer Nachmeldefrist Ansprüche geltend gemacht werden.
Im Versicherungsvertrag war eine Klausel enthalten, nach der der Vertrag automatisch mit Ablauf der Versicherungsperiode endet, in der ein Insolvenzantrag über das Vermögen der Versicherungsnehmerin gestellt wurde (Ziff. II.5.b) AVB). Zudem wurde eine Nachmeldefrist vereinbart, die unter anderem ausgeschlossen war, wenn der Versicherungsvertrag aus dem Grund „Insolvenz“ beendet wurde (Ziff. II.3. Abs. 1 AVB).
Nachdem der Kläger im April 2019 ehemalige Vorstandsmitglieder erfolgreich auf Ersatz in Anspruch genommen und den Versicherungsfall der Beklagten angezeigt hatte, nahm er diese hinsichtlich der verbleibenden Klageforderung aus abgetretenem Recht in Anspruch. Die Beklagte verweigerte die Leistung unter Hinweis auf das automatische Vertragsende und den Ausschluss der Nachmeldefrist infolge der Insolvenz. In den Vorinstanzen (LG und OLG Frankfurt) hatte der Kläger keinen Erfolg. Der BGH hob das Berufungsurteil jedoch auf und verwies die Sache zur Entscheidung an das Berufungsgericht zurück.
Die streitige Klausel und ihre rechtliche Bewertung
Zunächst beschäftigte der BGH sich mit der Frage, ob die in Ziff. II.5.b) AVB enthaltene automatische Beendigung des Versicherungsvertrags bei Stellung eines Insolvenzantrags mit dem Ablauf der Versicherungsperiode wirksam ist.
Der BGH bejaht zunächst die Kontrollfähigkeit der Klausel nach § 307 Abs. 3 S. 1 BGB. Sie beschränke nicht lediglich den Leistungsumfang, sondern gestalte diesen aus und unterliege daher der Inhaltskontrolle.
Die Klausel weicht zum Nachteil des Versicherungsnehmers von der gemäß § 18 VVG halbzwingenden Regelung in § 11 Abs. 3 VVG ab, der bei ordentlichen Kündigungen durch den Versicherer eine Mindestkündigungsfrist von einem Monat vorsieht. Der zwischen den Parteien geschlossene Versicherungsvertrag fällt unter die Regelung des § 11 Abs. 3 VVG, obwohl es sich um einen Vertrag i.S.v. § 11 Abs. 1 VVG handelt, der zunächst auf eine bestimmte Zeit eingegangen, jedoch im Voraus eine Verlängerung für den Fall vereinbart wurde, dass vor Ablauf der Vertragslaufzeit keine Kündigung erfolgt. Die Auslegung. dass die sich aus § 11 Abs. 3 VVG ergebenden Mindest- und Höchstfristen für die Kündigung des Vertrags auch auf den in § 11 Abs. 1 VVG geregelten Fall Anwendung finden, ergibt sich aus dem Wortlaut des Gesetzes, seiner Systematik und dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers. Der Wortlaut von § 11 Abs. 3 VVG steht einer Erstreckung auf den in § 11 Abs. 1 VVG geregelten Fall nicht entgegen. Die Regelung von Mindest- und Höchstfristen der Kündigung in einem eigenen Absatz spricht auch systematisch für eine Erstreckung des Anwendungsbereichs auf die Fälle von Abs. 1 und Abs. 2. Darüber hinaus wollte der Gesetzgeber nach der Gesetzesbegründung mit der wortgleichen Übernahme von § 8 Abs. 2 S. 2 VVG in der bis zum 31.12.2007 geltenden Fassung (nachfolgend VVG a.F.) in einen eigenen Absatz sicherstellen, dass auch Verträge mit bestimmter Laufzeit mit Verlängerungsklauseln von den Kündigungsfristen des § 11 Abs. 3 VVG erfasst werden.
Diese vorgesehene Kündigungsfrist diene dem Schutz des Versicherungsnehmers, dem Gelegenheit gegeben werden soll, sich rechtzeitig auf das Vertragsende einzustellen und ggf. Ersatzversicherungsschutz zu erlangen. Eine automatische Vertragsbeendigung ohne Kündigung oder ohne Einhaltung einer Frist sei mit diesem Schutzzweck nicht vereinbar, was der BGH mit seinen Entscheidungen zum alten Recht bei Klauseln zum automatischen Vertragsende bei Eintritt eines (potenziell) gefahrerhöhenden Ereignisses verglich. Auch ließ er das Argument nicht zu, dass durch die Beendigung zum Ablauf der Versicherungsperiode formal eine gewisse und abhängig vom Tag der Stellung des Insolvenzantrags auch eine länger als einen Monat laufende Vorlaufzeit entstehen kann.
Ob bei insolvenzbedingten Beendigungsklauseln das Wahlrecht des Insolvenzverwalters nach § 103 InsO betroffen ist und diese bei einer Beeinträchtigung des Wahlrechts nach § 119 InsO unwirksam sind, lässt der BGH offen. Das Interesse des Versicherers, sich im Fall der Insolvenz des Versicherungsnehmers möglichst schnell vom Vertrag zu lösen, rechtfertigt nicht die Abweichung von § 11 Abs. 1 und 3 VVG, was sich unter anderem auch daraus ergibt, dass die frühere Regelung in § 14 VVG a.F., welche dem Versicherer bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Versicherungsnehmers die Möglichkeit eröffnete, das Versicherungsverhältnis mit einer Frist von einem Monat zu kündigen, entgegen dem Vorschlag der Kommission zur Reform des Versicherungsvertragsrechts nicht übernommen wurde. Somit besteht für die Insolvenz des Versicherungsnehmers – anders als für die Insolvenz des Versicherers, siehe § 16 VVG – keine Sonderregelung mehr und der Fall unterliegt den allgemeinen Regelungen. Dieses Ergebnis wird auch durch die §§ 23 ff. VVG bestätigt.
Folgen für die Nachmeldefrist
Der BGH stellt weiter klar, dass nach verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs durch einen durchschnittlichen Versicherungsnehmer dieser die Regelung zur Nachmeldefrist in Ziff. II.3. Abs. 1 AVB nur so verstehen kann, dass die Nachmeldefrist ausgeschlossen werde, wenn es gerade aufgrund der in Ziff. II.5.b) AVB geregelten Konstellationen zu einer Vertragsbeendigung komme.
Der BGH geht im ersten Schritt davon aus, dass der durchschnittliche Versicherungsnehmer erkennt, dass im Hinblick auf die insolvenzbedingte Vertragsbeendigung nicht an das Vorhandensein materieller Insolvenzgründe angeknüpft, sondern allein auf den formal-prozessualen Gesichtspunkt der Insolvenzantragstellung abgestellt wird. Im zweiten Schritt würde der Versicherungsnehmer diese Erkenntnis auf die Regelung in Ziff. II.3. Abs. 1 AVB übertragen und sich hierin auch durch die Regelungen in Ziff. II.5.a) AVB und Ziff. II.5.d) AVB bestätigt sehen, in denen ebenfalls jeweils auf die Insolvenzantragstellung als Anknüpfungspunkt für die in ihnen geregelten Rechtsfolgen abgestellt wird. Er wird aus der Verknüpfung der beiden Halbsätze dieser Klausel schließen, dass erst die kausal nach einem Insolvenzantrag durch Ziff. II.5.b) AVB bedingte Vertragsbeendigung zum Entfallen der Nachmeldefrist führen soll. Er wird insoweit erkennen, dass die zur Nachmeldefrist getroffenen Regelungen sinnvollerweise erst dann eingreifen können, wenn der Vertrag auch tatsächlich beendet worden ist. Die Formulierung in Ziff. II.3. Abs. 1 AVB wird er deshalb so verstehen, dass der Ausschluss der Nachmeldefrist nur bzw. schon dann eingreifen soll, wenn es gerade infolge einer Insolvenzantragstellung zu einer automatischen Vertragsbeendigung nach Ziff. II.5.b) AVB kommt. Der durchschnittliche Versicherungsnehmer wird der Regelung daher insbesondere nicht entnehmen, dass eine anderweitige Vertragsbeendigung, etwa durch eine ordentliche Kündigung des Versicherers – auch wenn sie auf insolvenzbedingten Umständen beruhen mag – zum Ausschluss der Nachmeldefrist führen soll.
Es bedürfe auch keiner Entscheidung, ob die Klausel in Ziff. II.3. Abs. 1 AVB einer Inhaltskontrolle nach §§ 307 ff. BGB zugänglich ist und ihr standhält. Der insolvenzbedingte Ausschluss der Nachmeldefrist ist unter Anwendung des sog. blue-pencil-tests ein inhaltlich vom Rest der Regelung in Ziff. II.3. Abs. 1 AVB trennbarer, einzeln aus sich heraus verständlicher Regelungsbestandteil ist, der gestrichen werden kann, ohne dass der Sinn des anderen Teils – welche dem Versicherungsnehmer eine Nachmeldefrist zubilligt und damit inhaltlich die Hauptaussage von Ziff. II.3. Abs. 1 AVB darstellt – darunter leidet.
Damit eröffnete sich dem Kläger die Möglichkeit, den Versicherungsfall noch innerhalb der prämienneutralen Nachmeldefrist von 60 Monaten anzuzeigen. Bei Annahme einer am 31. März 2016 erklärten Kündigung zum Ende der laufenden Versicherungsperiode am 31. Januar 2017 wäre diese damit am 9. April 2019 noch nicht abgelaufen.
Keine ergänzende Vertragsauslegung zugunsten der Versicherung
Eine ergänzende Vertragsauslegung, die trotz Unwirksamkeit der Klausel eine abgewandelte Regelung zur insolvenzbedingten Beendigung vorsieht, lehnt der BGH ebenfalls ab. Zwar ist eine ergänzende Vertragsauslegung grundsätzlich möglich, wenn das Gesetz keine Regelung für den unwirksamen AGB/AVB-Bestandteil enthält und dadurch eine Lücke im Vertrag entsteht. Diese darf aber nicht zur Erweiterung des Vertragsgegenstands führen, muss für den Versicherer zumutbar und für den Versicherungsnehmer typischerweise von Interesse sein. Als Folge kommt es zu der Vertragsgestaltung, die „die Parteien bei sachgerechter Abwägung der beiderseitigen Interessen nach Treu und Glauben redlicherweise vereinbart hätten, wenn ihnen die Unwirksamkeit der Klausel bekannt gewesen wäre.“ (Rn. 35) Die Voraussetzungen sind zwar erfüllt, es sei jedoch nicht erkennbar, welche Regelung die Parteien bei Kenntnis der Unwirksamkeit gewählt hätten. Verschiedene denkbare Gestaltungsmöglichkeiten stünden im Raum, ohne dass sich eine eindeutig bevorzugte erkennen ließe, was dazu führt, dass die Gerichte keine Möglichkeit zur ergänzenden Vertragsauslegung haben. Eine geltungserhaltende Reduktion der Klausel – etwa durch Einfügen einer einmonatigen Kündigungsfrist – sei ebenfalls ausgeschlossen.
Fazit und Bedeutung für die Praxis
Mit dieser Entscheidung stärkt der BGH die Rechte von Versicherungsnehmern – insbesondere Insolvenzverwaltern – in D&O-Versicherungen unter Geltung des „Claims-made-Prinzips“. Klauseln, die das Versicherungsverhältnis bei Insolvenzantragstellung automatisch, wenn auch zum Ende der Versicherungsperiode beenden, sind unwirksam. Sie benachteiligen den Versicherungsnehmer unangemessen und widersprechen dem Schutzgedanken der Mindestkündigungsfrist nach § 11 Abs. 3 VVG.
Für die Praxis bedeutet das: Versicherer können sich nicht ohne Weiteres durch AVB-Klauseln bei Eintritt einer Insolvenz des Versicherungsnehmers von der Deckungspflicht lösen. Auch der Ausschluss der Nachmeldefrist bei automatischer Vertragsbeendigung im Insolvenzfall greift nicht, wenn die Beendigung nicht automatisch, sondern durch Kündigung erfolgt. Versicherungsnehmer (bzw. deren Insolvenzverwalter) erhalten damit die Möglichkeit, auch nachträglich Ansprüche geltend zu machen – insbesondere in Fällen, in denen ein etwaiges Organverschulden erst während der Insolvenz aufgedeckt oder rechtlich verfolgt wird.
Das Urteil gibt Anlass, bestehende AVB kritisch zu prüfen und ggf. anzupassen. Vertragsgestaltungen, die auf Automatismen zur Vertragsbeendigung und Abwicklung nach Vertragsende bei kritischen Ereignissen wie Insolvenz setzen, laufen Gefahr, an der Inhaltskontrolle zu scheitern.
Timon Arndt Dunkel