BGH, EuGH-Vorlage vom 11. Februar 2025 – KZR 74/23
Zur Klärung der Frage, ob ein Unternehmen, dem wegen eines Verstoßes gegen Art. 101 AEUV ein Bußgeld auferlegt wurde, nach nationalem Recht Ersatz des Bußgeldes von seinen Geschäftsführern oder Vorstandsmitgliedern verlangen kann oder ob dies Art. 101 AEUV entgegensteht, hat der BGH den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 Abs. 1 Buchst. b, Abs. 3 AEUV um eine Vorabentscheidung ersucht.
Sachverhalt:
Die Klägerin zu 1 ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH), die Klägerin zu 2 eine Aktiengesellschaft (AG). Beide sind Teil einer Unternehmensgruppe, die in der Edelstahlproduktion tätig ist. Der Beklagte war von 1998 bis 2015 Geschäftsführer der Klägerin zu 1 sowie zugleich Vorstandsmitglied der Klägerin zu 2, ab 2003 der Vorstandsvorsitzende der Klägerin zu 2.
In der Zeit von 2002 bis 2015 beteiligte sich der Beklagte als Vertreter der Klägerin zu 1 an kartellrechtswidrigen Preisabsprachen in der Edelstahlbranche. Ziel des Kartells war es, den Preiswettbewerb durch ein branchenweit abgestimmtes Preissystem aus Basispreisen und Zuschlägen zu dämpfen. Die Klägerin zu 1 legte diese abgestimmten Zuschläge ihren Verträgen zugrunde.
Im Rahmen von Ermittlungen des Bundeskartellamts seit 2015 wurde gegen den Beklagten ein Bußgeld in Höhe von 126.000 € und gegen die Klägerin zu 1 ein Bußgeld in Höhe von 4,1 Mio. € wegen vorsätzlicher Kartellordnungswidrigkeiten verhängt. Die Geldbußen dienten ausschließlich der Ahndung; eine Vorteilsabschöpfung erfolgte nicht. Das Verfahren gegen die Klägerin zu 2 wurde eingestellt.
Für den Beklagten bestand eine von der Klägerin zu 2 abgeschlossene D&O-Versicherung mit einer Deckungssumme von 25 Mio. €. Der Versicherungsschutz umfasste jedoch keine Schadensersatzansprüche wegen wissentlicher Pflichtverletzung.
Die Klägerinnen fordern vom Beklagten Ersatz der ihnen entstandenen Schäden. Die Klägerin zu 1 verlangt insbesondere Ersatz des gegen sie verhängten Bußgeldes, während die Klägerin zu 2 die Erstattung von Aufklärungs- und Verteidigungskosten in Höhe von rund 1,144 Mio. € begehrt.
Das Landgericht hat die Klage der Klägerinnen auf Ersatz des Bußgeldes sowie der Verteidigungskosten abgewiesen. Die hiergegen eingelegte Berufung blieb vor dem Oberlandesgericht ohne Erfolg. Dieses gab jedoch der Revision statt.
Nun hängt der Erfolg der Revision von der Frage ab, ob Art. 101 AEUV einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Unternehmen, gegen das wegen eines Kartellverstoßes ein Bußgeld verhängt wurde, dieses Bußgeld von seinen Geschäftsführern oder Vorstandsmitgliedern ersetzt verlangen kann.
Regressfähigkeit von Kartellgeldbußen:
§ 43 Abs. 2 GmbHG begründet eine solidarische Haftung der Geschäftsführer gegenüber der Gesellschaft für Schäden, die aus der Verletzung ihrer Obliegenheiten resultieren. Eine vergleichbare Vorschrift findet sich in § 93 AktG, für die Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft. Anhand der Mitzitierung des BGH des § 43 Abs. 2 GmbHG und § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG zeigt sich, dass das deutsche Recht für Aktiengesellschaften und Gesellschaften mit beschränkter Haftung in dieser Hinsicht eine einheitliche Regelung vorsieht. Das kartellrechtswidrige Verhalten des Beklagten in Form der Beteiligung an einem nach Art. 101 Abs. 1 AEUV verbotenen Preiskartell stellt keinen pflichtgemäßen Geschäftsführungsakt gem. § 43 Abs. 2 GmbHG dar. Durch diese bewusste Verletzung seiner gesetzlichen Pflichten aus § 43 Abs. 1 GmbHG hat der Beklagte seine Legalitätspflicht missachtet. Unerheblich ist, ob das gesetzwidrige Verhalten für die Gesellschaft kurzfristig vorteilhaft gewesen sein mag. Demnach stellt das verhängte Bußgeld i.H.v. 4,1 Mio. € eine Belastung des Vermögens der Gesellschaft dar und mithin einen Schaden i.S.d. § 43 Abs. 2 GmbHG, § 249 BGB.
Fraglich ist jedoch, ob die Klägerin diesen Schaden gegenüber dem Beklagten nach § 43 Abs. 2 GmbHG, § 93 Abs. 1 S.1 AktG regressieren kann oder ob dem der Zweck des Kartellbußgeldes entgegensteht.
Der BGH skizziert eine bestehende Auffassungslage, wonach ein Regressanspruch der Gesellschaft gegen Organmitglieder für gegen sie verhängte Kartellgeldbußen dem Sanktionszweck widersprechen könnte. Denn die Unternehmensgeldbuße soll das Vermögen der Gesellschaft als solche treffen und eine nachhaltige, präventive Wirkung entfalten. Ein Regress auf das pflichtverletzende Organmitglied könnte diesen Zweck unterlaufen, da es die wirtschaftliche Belastung für das Unternehmen letztlich neutralisieren würde. Der BGH nimmt auch die Gegenmeinung zur Kenntnis, die einen Regressanspruch trotz kartellrechtlicher Sanktion für zulässig hält. Sie stützt sich auf die zivilrechtliche Eigenständigkeit des Innenregresses und argumentiert, dass der Sanktionszweck durch die Bußgeldverhängung bereits erfüllt sei.
Zudem werden Bedenken geäußert, ob § 43 Abs. 2 GmbHG, § 93 Abs. 2 S.1 AktG einschränkend auszulegen seien.
Dabei wird eine teleologische Reduktion in Erwägung gezogen. Es müsste also eine planwidrige Regelungslücke vorliegen. Zudem müsste der Wortlaut im Hinblick auf ihren Normzweck zu weit gefasst sein. Eine planwidrige Regelungslücke ist jedoch nach Ansicht des BGH nicht erkennbar, jedenfalls nicht „zweifelsfrei“. Hierfür werden mehrere Gründe aufgeführt, unter anderem, dass der Gesetzgeber trotz mehrfacher Reformen bewusst kein Regressverbot eingeführt hat. Parallelen zu Österreich zeigen Ausnahmen in anderen Bereichen, jedoch keine vergleichbare Einschränkung im Kartellrecht. Diese Argumentation spricht gegen eine einschränkende Auslegung der §§ 43 Abs. 2 GmbHG und § 93 Abs. 2 AktG.
Grundsätzlich fordert der EuGH eine Gesamtbetrachtung des nationalen Rechts. Diese soll sicherstellen, dass die Anwendung der nationalen Vorschriften den unionsrechtlichen Anforderungen an Wirksamkeit, Abschreckung und Verhältnismäßigkeit der Sanktion genügt.
Die Wirksamkeit eines nach Art. 101 AEUV verhängten Bußgeldes könnte bei einer wirtschaftlichen Entlastung in Form des Regresses leiden, ähnlich wie die steuerrechtliche Abzugsfähigkeit einer Geldbuße. Der BGH verweist auf die Auffassung, dass ein Rückgriff auf das Leitungsorgan zur Verhaltenssteuerung beitragen könne, insbesondere, da gegen Organmitglieder keine persönlichen Bußgelder verhängt werden können. Die abschreckende Wirkung gegenüber den handelnden Personen könne dadurch verstärkt werden, vorausgesetzt, die Geldbußen erreichen eine hinreichende Höhe.
Das Unionsrecht verlangt also effektive und abschreckende Sanktionen bei Kartellverstößen. Ein vollständiger Regress könnte diese Wirkung beeinträchtigen. Dennoch folgt daraus kein generelles unionsrechtliches Regressverbot, da auch mit Rückgriff auf die Organmitglieder ein ausreichender Abschreckungseffekt verbleibt.
Grundsätzlich lässt sich sagen, dass der BGH den Kartellbußgeldregress für das deutsche Recht anerkennt, der BGH kritisiert jedoch die mögliche Unvereinbarkeit mit Art. 101 AEUV.
Der BGH weist darauf hin, dass sich aus dem Bestehen einer D&O-Versicherung keine verallgemeinerbaren Rückschlüsse für die Haftungsfrage ziehen lassen. Ob und in welchem Umfang Versicherungsschutz besteht, ist stets eine Frage des Einzelfalls. Zudem bleibt festzuhalten, dass die D&O-Versicherung nur unvorsätzliche Pflichtverletzungen abdeckt, weshalb ein Rückgriff auf die Versicherung entfällt. Das Bußgeld selbst bleibt unregressierbar, da ein solcher Rückgriff die präventive Wirkung der Sanktion unterlaufen würde. Anders verhält es sich bei den Aufklärungs- und Verteidigungskosten, für die unter bestimmten Voraussetzungen eine Erstattung möglich ist.
Fazit:
Ein Regress der Gesellschaft gegen ihre Organe für Kartellbußgelder ist in Deutschland nur eingeschränkt möglich, denn die Geldbußen sollen primär der Prävention und Abschreckung dienen. Kosten, die durch Pflichtverletzungen entstehen, wie etwa Aufklärungs- oder Verteidigungskosten, können hingegen unter bestimmten Voraussetzungen erstattet werden. Auf EU-Ebene besteht kein generelles Verbot eines solchen Regresses, solange die Sanktionen weiterhin effektiv und abschreckend bleiben.
Für die Verteidigungs- und Aufklärungskosten in Höhe von rund 1,144 Mio. € besteht grundsätzlich eine Möglichkeit der Durchsetzung, sofern nachgewiesen werden kann, dass der Beklagte vorsätzlich oder grob fahrlässig gehandelt hat. Diese Kosten gelten nicht als Bußgeld, sondern als Schaden, der aus der Pflichtverletzung resultiert, und fallen daher in den Regressbereich nach § 43 Abs. 2 GmbHG bzw. § 93 Abs. 2 AktG.
Es bleibt abzuwarten, wie der EuGH über die vom BGH mit Beschluss vom 11. Februar 2025 (KZR 74/23) vorgelegte Frage zur Vereinbarkeit des Innenregresses mit Art. 101 AEUV entscheiden wird.
Berjan Kirkukly