BGH, Urteil vom 12.03.2025 – IV ZR 32/24
I. Ein häufiges Szenario – und eine klare Antwort des BGH
Stellen Sie sich vor: Um sich gegen Verdienstausfälle im Krankheitsfall abzusichern, schließen Sie eine private Krankentagegeldversicherung mit einem festen Tagessatz ab. Jahre später erkranken Sie – und plötzlich teilt Ihnen Ihr Versicherer mit, dass Sie weniger Geld erhalten, weil Ihr Einkommen in der Zwischenzeit gesunken sei. Ein solches Szenario stand im Mittelpunkt einer wegweisenden Entscheidung des BGH.
Grundsätzlich bedürfen Änderungen von Versicherungsverträgen nach Abschluss des Vertrages die Zustimmung beider Parteien. Wird allerdings eine Klausel der allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) für unwirksam erklärt, kann der Versicherer unter bestimmten Voraussetzungen diese einseitig ersetzen, § 164 Abs. 1 VVG. Diese Ersetzungsbefugnis soll den Versicherer aber nicht pauschal dazu ermächtigen, den Versicherungsvertrag zu ändern. In seinem Urteil vom 12. März 2025 hat der IV. Zivilsenat klargestellt: Eine solche Klauselersetzung ist nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zulässig, welche im entschiedenen Fall nicht vorlagen.
II. Der Ursprung des Problems: Gesunkenes Einkommen – gekürzte Leistung?
Mit Urteil vom 6. Juli 2016 (IV ZR 44/15, BGHZ 211, 51) erklärte der BGH die vielfach verwendete Klausel § 4 Abs. 4 MB/KT 2009 für unwirksam. Die Klausel ermöglichte eine Anpassung des Krankentagegeldes, wenn sich das Nettoeinkommen des Versicherten dauerhaft verringerte.
Grund der Unwirksamkeit war ein Verstoß gegen das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 S. 2 BGB: Für durchschnittliche Versicherungsnehmer war nicht hinreichend klar erkennbar, wie das maßgebliche Einkommen berechnet werde und welcher Zeitraum dabei als Referenz heranzuziehen sei.
In der Folge versuchten Versicherer, die durch die Unwirksamkeit entstandene Lücke zu schließen – unter anderem durch die Einführung von neuen Klauseln, die zwar konkretere Definitionen enthielten, im Ergebnis aber weiterhin eine Kürzung des Krankentagegeldes bei Einkommensrückgang vorsahen. So auch im entschiedenen Fall: Der Kläger hatte seit 2017 eine Krankentagegeldversicherung bei dem beklagten Versicherer abgeschlossen. Der Vertrag sah ab dem 22. Tag der Arbeitsunfähigkeit ein Krankentagegeld von 204,52 € täglich vor. Der Vertrag enthielt zunächst die Klausel § 4 Abs. 4 MB/KT 2009. Im Jahr 2018 ersetzte der Versicherer diese durch eine neue Klausel, die bei gesunkenem Einkommen ebenfalls die Möglichkeit zur Herabsetzung bei Einkommensrückgang vorsah – nun aber mit detaillierteren Vorgaben über Grundlagen und Zeitrahmen der Berechnung. Ab Mai 2020 kürzte er das Krankentagegeld auf 175,00 €, obwohl der Kläger zu diesem Zeitpunkt bereits krankgeschrieben war und laufende Leistungen bezog. Die Grundlage dafür: die neue Klausel von 2018.
III. Die Prozessfrage: Darf die neue Klausel greifen?
Der Kläger begehrte vor Gericht: die Feststellung, dass sein Vertrag mit dem ursprünglich vereinbarten Tagessatz weiterlaufe, die Feststellung, dass der Versicherer nicht berechtigt sei, das Tagegeld einseitig zu kürzen und die Zahlung der Differenz zwischen dem vereinbarten und dem gekürzten Krankentagegeld für die Zeit seiner Arbeitsunfähigkeit.
Im Zentrum dieser Forderungen steht die Frage: Durfte der Versicherer einseitig die alte, unwirksame Klausel durch eine neue Klausel ersetzen und berechtigte diese, das Krankengeld zu senken?
1. Die Argumentation des BGH im Überblick
Entscheidend für die Beantwortung dieser Frage war das Vorliegen der Voraussetzungen des § 164 Abs. 1 VVG.
Nach § 164 Abs. 1 VVG ist die Ersetzung einer für unwirksam erklärten Bestimmung nur möglich, wenn dies zur Fortführung des Vertrages notwendig ist (Alt. 1) oder, wenn das Festhalten an dem Vertrag ohne neue Regelung für eine Vertragspartei auch unter Berücksichtigung der Interessen der anderen Vertragspartei eine unzumutbare Härte darstellen würde (Alt. 2).
Der Senat führte zunächst zur Frage der Notwendigkeit im Sinne des § 164 Abs. 1 Alt. 1 VVG aus: Eine solche könne nur dann bestehen, wenn die Lücke, die durch die unwirksame Klausel entstanden sei, so gravierend sei, dass der Vertrag eigentlich durch eine sog. ergänzende Vertragsauslegung angepasst werden müsste.
Hierfür müssten jedoch zwei Voraussetzungen erfüllt sein:
- es dürfe keine dispositiven Gesetzesbestimmungen zur Füllung der entstandenen Lücken geben, wodurch der Vertrag tatsächlich lückenhaft werde
- dem Versicherer wäre es gem. § 306 Abs. 3 BGB unzumutbar ohne ergänzende Vertragsauslegung am lückenhaften Vertrag festzuhalten
Mithin war die Kernfrage, ob es für den Versicherer unzumutbar war, den Vertrag ohne die Kürzungsklausel fortzuführen und dem Kläger im Krankheitsfall den vollen vereinbarten Tagessatz zu zahlen, auch wenn dessen aktuelles Nettoeinkommen niedriger war.
Diese Frage verneinte der Senat zugunsten des Klägers und begründete sein Vorgehen mit folgenden Einwänden:
a. Der Charakter der Krankentagegeldversicherung als Summenversicherung
Krankentagegeldversicherungen seien Summenversicherungen, bei welchen im Versicherungsfall eine vorher fest vereinbarte Geldsumme gezahlt werde. Diese sei unabhängig davon, wie hoch der tatsächliche finanzielle Schaden oder Einkommensausfall sei. Eine mögliche Abweichung zwischen tatsächlichem Bedarf und versicherter Leistung sei mithin systembedingt und vom Versicherer bewusst akzeptiert. Es gehöre mithin zum Wesen der Summenversicherung, dass der Tagessatz vom tatsächlichen Bedarf oder Einkommensfall abweichen könne.
b. Akzeptierte Ungleichgewichte
Der BGH wies zudem darauf hin, dass solche Abweichungen in die andere Richtung von den Parteien hingenommen würden. Bei einer Steigerung des Nettoeinkommens eines Versicherten führe dies nicht automatisch zur Erhöhung des versicherten Tagessatzes. Das zeige: Die Vereinbarung sei bewusst starr, weil sie eine Pauschalleistung betreffe.
c. Interessenabwägung
Der Senat führte zur Ermittlung einer unzumutbaren Härte des Festhaltens am Vertrag eine Interessenabwägung durch. Ein theoretisch erhöhter Anreiz, im Krankheitsfall länger arbeitsunfähig zu bleiben (weil das Krankentagegeld über dem aktuellen Einkommen liegt), genüge nicht, eine Vertragslücke anzunehmen oder das Vertragsgefüge als „gestört“ zu werten. Auch dies stelle ein kalkuliertes Risiko der Summenversicherung dar. Weiterhin sei der Versicherer nicht schutzlos. Ihm obliegen andere Kontrollmechanismen, wie das Einfordern von Nachweisen über die Arbeitsunfähigkeit, zur Überprüfung des tatsächlichen Vorliegens eines Versicherungsfalls.
d. Bedeutung für den zugrundeliegenden Fall
Der BGH verneinte aus den genannten Aspekten im vorliegenden Fall eine unzumutbare Härte im Sinne des § 306 Abs. 3 BGB. Mithin habe kein Grund für eine ergänzende Vertragsauslegung bestanden, weshalb auch die Ersetzung der Klausel durch den Versicherer gem. § 164 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 VVG nicht notwendig zur Fortführung des Vertrages gewesen sei. Im Hinblick auf § 164 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 VVG führt der BGH aus: „Auf das sich aus §§ 203 Abs. 4, 164 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 VVG ergebende Klauselersetzungsrecht kann sich die Beklagte nicht berufen, weil – wie ausgeführt – eine unzumutbare Härte gem. § 306 Abs. 3 BGB nicht vorliegt.“
Im Ergebnis müsse der Vertrag nach Ansicht des BGH auch ohne die Kürzungsklausel vom Versicherer weitergeführt werden, auch wenn das Risiko bestehe, dass der vereinbarte Tagessatz das aktuelle Einkommen des Versicherers übersteige.
2. Das Ergebnis des BGH
Der BGH hob mit seiner Entscheidung das vorangegangene Urteil des OLG Köln auf, das die Klauselersetzung für wirksam erklärte und stellte das Urteil des Landgerichts wieder her. Er entschied eindeutig: Die Klauselersetzung war unwirksam, die Kürzung somit rechtswidrig. Der Vertrag gelte mit dem ursprünglich vereinbarten Tagessatz weiter.
IV. Die Bedeutsamkeit dieser Entscheidung
Das Urteil des BGH bringt eine Klarstellung zu den rechtlichen Grenzen der Klauselersetzung bei Krankentagegeldversicherungen und stärkt damit den Schutz der Versicherungsnehmer vor einseitigen Vertragsänderungen. Es betont die hohen Anforderungen an die Zulässigkeit nachträglicher Vertragsanpassungen nach § 164 Abs. 1 VVG, unterstreicht die Bedeutung des Transparenzgebots des § 307 Abs. 1 S. 2 BGB und macht deutlich, dass das Risiko schwankender Einkommen durch die Versicherer bereits bei Vertragsschluss zu berücksichtigen ist. Damit begrenzt das Urteil die Gestaltungsspielräume der Versicherer erheblich und stellt die Vertragstreue in den Vordergrund.
Emily Müller