Der Rückkaufswert als Berechnungsgrundlage für einen Pflichtteilsergänzungsanspruch nach § 2325 Abs. 1 BGB

BGH, Urteil vom 28.04.2010 – IVR ZR 73/08 = BeckRS 2010, 12347

Im Rahmen der Nachlassgestaltung ist die widerrufliche Einräumung von Bezugsrechten bei Lebensversicherungsverträgen gängige Praxis. Bereits seit Schaffung des BGB ist jedoch umstritten, auf Grundlage welchen Werts ein Pflichtteilsberechtigter eine Ergänzung gem. § 2325 Abs. 1 BGB begehren kann, wenn der Erblasser die Todesfallleistung dergestalt einem Dritten zugewendet hat.

Seit einer Entscheidung des Reichsgerichts (Urt. v. 25.03.1930, RGZ 128, 187, 190) haben Rechtsprechung und herrschende Lehre die Frage bisher dahingehend beantwortet, dass die Summe der gezahlten Prämien die Berechnungsgrundlage bilde (Lange, in: MüKo BGB, Bd. 9, § 2325 Rn. 38 m.w.N.).

Mit Urteil vom 23.10.2003 – AZ: IX ZR 252/01 (BGH, VersR 2004, 93-96) hat der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs für eine ähnliche Fragestellung im Insolvenzrecht entschieden, dass nicht auf die Prämiensumme, sondern vielmehr auf die gesamte Versicherungsleistung abzustellen sei. Diesen Ansatz verfolgte das OLG Düsseldorf in der Entscheidung über einen Pflichtteilsergänzungsanspruch (Urt. v. 22.02.2008 – AZ: 7 U 140/07, VersR 2008, 1097) konsequent weiter, indem es den Anspruch auf Grundlage der vollen Versicherungssumme berechnete. Das Gericht ließ wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache die Revision zu.

Der insbesondere für das Versicherungsvertragsrecht und das Erbrecht zuständige IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat nun in dem Revisionsverfahren (Urt. v. 28.04.2010 – AZ: IV ZR 73/08, BeckRS 2010, 12347) unter ausdrücklicher Aufgabe seiner bisherigen Auffassung entschieden, dass Pflichtteilsergänzungsansprüche weder nach der Summe der vom Erblasser gezahlten Prämien noch nach der gesamten Versicherungsleistung zu bemessen seien. Vielmehr  käme es allein auf den Wert an, den der Erblasser durch eine Verwertung seiner Rechte aus dem Versicherungsvertrag in der letzten juristischen Sekunde seines Lebens selbst noch hätte realisieren können. Grundsätzlich sei daher bei der Berechnung auf den Rückkaufswert abzustellen. Gegebenenfalls könne aber auch ein – objektiv belegt – höherer Veräußerungswert heranzuziehen sein.

Nach dem BGH folgt aus dem Schutzzweck von § 2325 BGB, dass für eine Pflichtteilsergänzung allein der Gegenstand in Betracht käme, der im lebzeitigen Vermögen des Erblassers vorhanden gewesen sei (BeckRS 2010, 12347 Rn. 25). Die Entscheidung des IX. Zivilsenates sei nicht übertragbar, da die Schutzrichtung der Insolvenzordnung eine andere sei (BeckRS 2010, 12347 Rn. 29 ff.). Dort stünde der Schutz einer konkreten Forderung im Vordergrund, während ein Pflichtteilsberechtigter lediglich einen Anteil von dem bekommen soll, was von dem Vermögen des Erblassers übrig sei (BeckRS 2010, 12347 Rn. 30). Die gesamte Versicherungssumme käme auch deshalb nicht in Betracht, da sie nie Gegenstand des Erblasservermögens gewesen sei (BeckRS 2010, 12347 Rn. 17). Der Erblasser kann zu Lebzeiten allein den Rückkaufswert realisieren (BeckRS 2010, 12347 Rn. 51).

Dem BGH ist zuzustimmen. Eine Anknüpfung an den Rückkaufswert ist nicht nur ein salomonischer Mittelweg, sondern dürfte die interessengerechteste Lösung für alle Beteiligen darstellen und den Schutzzweck des § 2325 BGB am meisten berücksichtigen.

Ingo Weckmann, LL.M.

Kann die Frist des § 12 Abs. 3 S. 1 VVG a.F. bei Altverträgen ab dem 01.01.2008 wirksam in Gang gesetzt werden?

Nach § 12 Abs. 3 VVG a.F. blieb der Versicherer leistungsfrei, wenn ein abgelehnter Anspruch gegen ihn nicht innerhalb von sechs Monaten gerichtlich geltend gemacht wurde. Diese Ausschlussfrist wurde durch die VVG-Reform ersatzlos gestrichen (Brand, in: Looschelders/Pohlmann, Art. 1 EGVVG, Rn. 22). Für die sog. Neuverträge gilt diese Regelung demnach nicht. Umstritten ist aber, ob die Norm hinsichtlich sog. Altverträge ab dem 01.01.2008 anwendbar ist.

Nachdem bereits das LG Dortmund in zwei Entscheidungen (Urt. v. 28. 05.2009 – 2 O 353/08, VersR 2010, 193-196;  Urt. v. 12.08.2009 – 22 O 179/08, VersR 2010, 196-198) die Möglichkeit einer Fristsetzung nach dem 01.01.2008 für Altverträge bejaht hat, kommt das LG Köln in einer jüngeren Entscheidung (Urt. v. 27.01.2010 – 26 O 224/09, VersR 2010, 611-612) zu demselben Schluss.

Die angesprochenen Gerichte begründen ihre Ansicht mit dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 1 EGVVG. Danach würde die Vorschrift lediglich durch Art. 1 Abs. 2 sowie die Art. 2-6 EGVVG eingeschränkt werden. Art. 1 Abs. 4 EGVVG werde als Ausnahme nicht erwähnt. Die Norm treffe auch ihrem Wortlaut nach nicht zu, da sie nur den Ablauf einer noch im Jahr 2007 gesetzten Frist im Jahr 2008 betreffe, nicht aber die erstmalige Fristsetzung im Jahr 2008.

Dieser Begründung ist nicht zuzustimmen. Dies zeigt sich insbesondere, wenn man das Vorbringen beider Auffassungen zur Ablehnung eines Fristbeginns nach dem 31.12.2008 gegenüberstellt.

Bejaht man das Setzen einer Frist nach § 12 Abs. 3 VVG a.F. mithilfe von Art. 1 Abs. 1 EGVVG bis zum 31.12.2008, bereitet die Argumentation, den Beginn einer Frist nach dem 01.01.2009 abzulehnen, nicht unerhebliche Probleme.  Die Auffassung des LG Dortmund (VersR 2010, 198), wonach gegen die Anwendbarkeit von Art. 1 Abs. 2 EGVVG spräche, dass die Klagefrist nur die prozessuale Durchsetzbarkeit und nicht den Inhalt der Rechte und Pflichten aus dem eingetretenen Versicherungsfall betreffe, ist nicht zwingend (Marlow, VersR 2010, 198, 199).

Stringenter ist die Ansicht, die § 12 Abs. 3 VVG a.F. schon ab dem 01.01.2008 für unanwendbar hält (Looschelders, in: MüKo VVG, Bd. 1, Art. 1 EGVVG Rn. 29 m.w.N.), da sie ein höheres Maß an Rechtssicherheit bietet. Denn der Eintritt eines Versicherungsfalles ist danach bedeutungslos. Zumal wäre die Vorschrift des Art. 1 Abs. 4 EGVVG obsolet, wenn Art. 1 Abs. 2 EGVVG daneben anwendbar wäre, da sämtliche übergangsrechtlich relevanten Fälle von der Regelung als Ausnahme zu Abs. 1 erfasst wären (Brand, in: Looschelders/Pohlmann, Art. 1 EGVVG, Rn. 23).

Nach Sinn und Zweck von Art. 1 Abs. 4 EGVVG dürfte die Klagefrist des § 12 Abs. 3 VVG a.F. bei Altverträgen ab dem 01.01.2008 nicht mehr wirksam in Gang gesetzt werden können.

Ingo Weckmann, LL.M.

Kein Ausschluss der Verweisung, wenn die Vergleichstätigkeit kein Ausbildungsberuf ist

BGH, Urteil vom 21.04.2010 – IV ZR 8/08 = BeckRS 2010, 11483

Mit der VVG-Reform wurde das Recht der Berufsunfähigkeitsversicherung in den §§ 172 – 177 VVG kodifiziert. Durch § 172 VVG erhält diese Versicherung ihr gesetzliches Leitbild (Klenk, in: Looschelders/Pohlmann, § 172, Rn. 1). Abs. 3 der Norm sieht die Möglichkeit vor, die Leistungspflicht des Versicherers davon abhängig zu machen, dass die versicherte Person auch keine andere Tätigkeit ausübt (konkrete Verweisung) oder ausüben kann (abstrakte Verweisung).

Nach ständiger Rechtsprechung des BGH  ist eine Vergleichstätigkeit gefunden, „wenn die neue Erwerbstätigkeit keine deutlich geringeren Kenntnisse und Fähigkeiten erfordert und in ihrer Vergütung sowie in ihrer sozialen Wertschätzung nicht spürbar unter das Niveau des bislang ausgeübten Berufs absinkt“ (Urt. v. 11.12.2002 – IV ZR 302/01, BGH NJW-RR 2003, 383, 384; Urt. v. 11.12.1996 – IV ZR 238/95, BGH VersR 1997, 436, 438 m.w.N.).

Fraglich ist, ob die Verweisung eines Versicherten, der in einem Ausbildungsberuf tätig war, auf eine Tätigkeit, die keine Ausbildung erfordert, grundsätzlich ein Absinken der sozialen Wertschätzung zur Folge hat.

In einer aktuellen Entscheidung verneint der BGH (Urt. v. 21.04.2010 – IV ZR 8/08, BeckRS 2010, 11483) in einem obiter dictum den automatischen Ausschluss einer Verweisung, falls die Vergleichstätigkeit kein Ausbildungsberuf ist. Ein Abstieg der sozialen Wertschätzung sei damit nicht von vornherein verbunden. Vielmehr sei auch in diesen Fällen eine konkrete Betrachtung entscheidend. Allerdings sei die abgeschlossene Berufsausbildung bei der Vergleichsbetrachtung ein bedeutender Faktor. Berufliche Tätigkeiten würden regelmäßig durch eine Ausbildung eine erhebliche Steigerung des sozialen Ansehens erfahren.

Kein zwingender Schluss, aber eine starke Tendenz – Dieser Gedankengang scheint auf den ersten Blick unentschlossen, erweist sich bei genauer Analyse gleichwohl als durchdacht und sinnvoll. Mit diesen Vorgaben setzt der BGH seine jüngste Rechtsprechung konsequent fort. Die Instanzgerichte sollen angehalten werden, jeden Fall individuell zu behandeln und zu prüfen. Den Entscheidungen, die pauschal ein Absinken der sozialen Wertschätzung bejahten (OLG Braunschweig Urt. v. 14.06.1999 – 3 U 288/08, VersR 2000, 620-621) oder verneinten (KG Berlin Urt. v. 13.06.1995 – 6 U 1067/95, VersR 1995, 1473-1474), wird eine Absage erteilt.  Der Appell zur Einzelfallentscheidung wird durch die Konkretisierung der Hinweispflicht nach § 139 Abs. 1 S. 2 ZPO durch den BGH noch verstärkt (BeckRS 2010 11483 Rn. 15). Dies ist  –  mit Ausnahme der zunehmenden Belastung der Gerichte – zu begrüßen, da im Bereich einer Berufsunfähigkeitsversicherung nicht selten Sachverhalte von existentieller Bedeutung zugrunde liegen.

Ingo Weckmann, LL.M.