Anforderungen an die Prognose einer Erwerbsunfähigkeit von mehr als 50 %

BGH, Urteil vom 30.06.2010 – IV ZR 163/09 = BeckRS 2010, 17209

Die Leistung einer Krankentagegeldversicherung ist in § 192 Abs. 5 VVG beschrieben. Danach ist der Versicherer verpflichtet, den als Folge von Krankheit oder Unfall durch Arbeitsunfähigkeit verursachten Verdienstausfall durch das vereinbarte Krankentagegeld zu ersetzen. Diese Beschreibung ist aber aufgrund ihrer vertraglichen Abdingbarkeit lediglich als Funktions- oder Zweckbeschreibung  einer Krankentagegeldversicherung anzusehen (Reinhard, in: Looschelders/Pohlmann, § 192, Rn. 38).

Damit der Versicherte an seiner Arbeitsunfähigkeit nicht verdient, enthalten die MB/KT 2009 ein ausdifferenziertes System von Leistungsausschlüssen sowie Leistungsbegrenzungen. Unter anderem sieht § 15 lit. b MB/KT 2009 einen Beendigungsgrund mit Eintritt der Berufsunfähigkeit vor. Nach dieser Norm liegt eine Berufsunfähigkeit vor, wenn die versicherte Person nach medizinischem Befund im bisher ausgeübten Beruf auf nicht absehbare Zeit mehr als 50 % erwerbsunfähig ist. Dieser Begriff entspricht nicht dem Rechtsbegriff der privatversicherungsrechtlichen Berufsunfähigkeit (vgl. dazu Klenk, in: Looschelders/Pohlmann, § 192, Rn. 11).

In einer aktuellen Entscheidung arbeitete der BGH (Urt. v. 30. Juni 2010 –  IV ZR 163/09, BeckRS 2010, 17209) nun die Anforderungen an die Prognose einer Erwerbsunfähigkeit von mehr als 50 % heraus. Nach dem BGH könne die erforderliche Prognose lediglich auf den jeweiligen Einzelfall bezogen gestellt werden, da sie abhängig von individuellen Umständen, wie etwa dem Alter des Versicherten, der Art und Schwere seiner Erkrankung und den Anforderungen der von ihm zuletzt ausgeübten Tätigkeit sei. Einen bestimmten Zeitraum, für den die Prognose zu stellen ist, lehnt der BGH jedoch ab (BeckRS 2010, 17209 Rn. 30). Darüber hinaus reiche es für eine tatrichterliche Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit nicht aus, den behandelnden Arzt als Zeugen zu hören. Vielmehr sei grundsätzlich ein neutrales (gerichtliches) Sachverständigengutachten einzuholen (BeckRS 2010, 17209 Rn. 23, 33).

Die strengen Anforderungen führen zwar zu einer starken Belastung der Gerichte. Sie sind aber zu begrüßen, da sie zur Rechtssicherheit beitragen.

Ingo Weckmann, LL.M.

Unkenntnis der Unwirksamkeit von Versicherungsbedingungen hemmt grundsätzlich nicht die Verjährung nach § 12 Abs. 1 Hs. 2 VVG a.F.

BGH, Urteil vom 14.07.2010 – IV ZR 208/09 = BeckRS 2010, 18150

Gem. § 12 Abs. 1 Hs. 2 VVG a.F. verjähren Ansprüche aus einem Lebensversicherungsvertrag nach fünf Jahren. Obwohl die Vorschrift durch die VVG-Reform ersatzlos gestrichen wurde, und nunmehr die allgemeinen Verjährungsregeln des BGB gelten (Klenk, in: Looschelders/Pohlmann, VVG, § 15 Rn. 3), ist sie aufgrund von Art. 3 Abs. 2 EGVVG für eine Vielzahl von Altverträgen noch relevant.

In diesem Zusammenhang war besonders fraglich, inwieweit die BGH-Urteile vom 09. Mai 2001 – Az: IV ZR 121/00 und vom 12.Oktober 2005 – Az: IV ZR 162/03 auf die Verjährung nach § 12 Abs. 1 Hs. 2 VVG a.F. einwirken. In den Entscheidungen erklärte das Gericht Versicherungsbedingungen von Lebensversicherungen für unwirksam,  da nachteilige Folgen der Verrechnung nach dem Zillmerungsverfahren bei Kündigung oder Beitragsfreistellung nicht transparent vereinbart worden seien (BGH NJW 2005, 3566), und entschied, dass  der Stornoabzug entfalle sowie der Rückkaufswert bei Kündigung einen Mindestrückkaufswert nicht unterschreiten dürfe (BGH NJW 2005, 3559).

In einer aktuellen Entscheidung musste sich der BGH mit der Frage auseinandersetzen, ob die Verjährungsfrist von § 12 Abs. 1 Hs. 2 VVG a.F. erst nach den Urteilen des Senats vom 12. Oktober 2005 zu laufen begann, da es den Versicherungsnehmern zuvor verwehrt gewesen sei, den nunmehr geltend gemachten Anspruch gerichtlich zu verfolgen.

Obwohl die Entscheidungsgründe in der Sache BGH IV ZR 208/09 noch nicht vorliegen, kann der Pressemitteilung (Urt. v. 14.07.2010, becklink 1002716) entnommen, dass der BGH die Frage verneint und die Ansprüche als verjährt ansieht. Maßgeblich für den Beginn der Verjährungsfrist des § 12 Abs. 1 VVG a. F. seien allein die Entstehung des Anspruchs auf Auszahlung des Rückkaufswerts und dessen Fälligkeit. Nach dem klaren Gesetzeswortlaut käme es nicht darauf an, ob Versicherungsnehmer zum Abrechnungszeitpunkt die Unwirksamkeit der Versicherungsbedingungen hätten erkennen können.

Dem BGH ist zuzustimmen. Obwohl es in Einzelfällen zu finanziellen Einbußen kommen mag, dürfte die Entscheidung im Sinne einer generellen Rechtssicherheit durch ein restriktives Anknüpfen an den Wortlaut interessengerecht sein.

Ingo Weckmann, LL.M.

Anwendbarkeit des § 215 VVG im Jahr 2008 – Teil II

OLG Düsseldorf, Urteil vom 18.06.2010 – I-4 U 162/09

Die Frage, ob § 215 VVG bereits ab dem 01.01.2008 auch auf Altverträge anzuwenden ist, beschäftigte schon mehrfach die Gerichte und war Gegenstand zahlreicher Auseinandersetzungen im Schrifttum. Ebenso war sie bereits mehrfach Thema des Blogs (Der Link enthält Vertiefungshinweise zum Meinungsstand).

Mit Urteil vom 18.06.2010 – Az: I-4 U 162/09 (abrufbar unter www.nrwe.de) lehnte das OLG Düsseldorf im Anschluss an die Entscheidung des OLG Naumburg (Beschluss v. 15.10.2009 – 4 W 35/09, VersR 2010, 374, 375) die Anwendbarkeit des § 215 VVG ab dem 01.01.2008 für Altverträge ab, wenn der Versicherungsfall  vor dem 31.12.2008 eingetreten ist. In diesem Fall gälte § 48 VVG a.F. fort, und zwar zeitlich unbegrenzt. Dies folge aus dem völlig eindeutigen Wortlaut von Art. 1 Abs. 2 EGVVG, der nicht bloß materielle Fragestellungen betreffe. Diese Auslegung weise die klarste Linie auf und käme daher dem von der VVG-Reform bezweckten Verbraucherschutz am besten nach. Bei der dargestellten Auffassung dürfte es sich mittlerweile um die h.M. handeln (Looschelders, in: MüKo VVG, Bd. 1, Art. 1 EGVVG Rn. 8).

Das Gericht ließ wegen der grundsätzlichen Bedeutung die Revision zu. Eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes ist aufgrund der divergierenden Rechtsprechung verschiedener Oberlandesgerichte mit Spannung zu erwarten.

Ingo Weckmann, LL.M.

Begriff der Gefahrerhöhung im Rahmen einer Schutzgelderpressung

BGH, Urteil vom 16.06.2010 – IV ZR 229/09 = BeckRS 2010, 16183

Der Begriff der Gefahrerhöhung ist in § 23 VVG nicht definiert. Hieran hat auch die VVG-Reform nichts geändert. Rechtsprechung und herrschende Lehre verstehen darunter die nachträgliche Schaffung eines Zustandes erhöhter Gefahr, der von solcher Dauer sein muss, dass er die Grundlage eines neuen natürlichen Gefahrenverlaufs bilden kann und somit geeignet ist, den Eintritt des Versicherungsfalles generell zu fördern (Looschelders in: Looschelders/Pohlmann, VVG, § 23 Rn. 8 m.w.N.).

Zwar liegen die Entscheidungsgründe in der Sache BGH IV ZR 229/09 noch nicht vor, allerdings lässt sich der Pressemitteilung (Urt. v. 16.06.2010, becklink 1001763) entnehmen, dass der BGH dieses Verständnis erneut bestätigt. Des Weiteren betont er, dass für die Frage einer ungewollten Gefahrerhöhung i.S.d. § 27 Abs. 1 VVG a.F. [§ 23 Abs. 3 VVG n.F.] allein objektive Umstände entscheidend seien. Eine andere Beurteilung folge auch nicht im Falle einer Schutzgelderpressung. Die Ansicht des Versicherungsnehmers, dass er unangemessen benachteiligt werde, wenn der Versicherer die Gefahrerhöhung nicht aus kriminalpolitischen Gründen hinzunehmen hätte und er mithin der kriminellen Drohung schutzlos ausgeliefert werde, träfe nicht zu. Der Versicherer müsse sich nicht entgegenhalten lassen, dass dem Versicherungsnehmer als Tatopfer eines Erpressungsversuchs wenig Handlungsspielraum verblieben sei, der Gefahrerhöhung Erfolg versprechend zu begegnen, da er seinerseits keine Verantwortung für die veränderte Sachlage trage (becklink 1001763).

Die vom BGH vorgenommene Auslegung des Begriffes der Gefahrerhöhung behält auch für Sachverhalte nach der VVG-Reform Gültigkeit, da die neuen Vorschriften (§§ 23 – 27 VVG n.F.) im Bezug auf die tatbestandlichen Voraussetzungen weitgehend unverändert geblieben sind (Looschelders in: Looschelders/Pohlmann, VVG, § 23 Rn. 2).

Ingo Weckmann, LL.M.