BGH: Eingesetzte Bonusmeilen sind von der Reiserücktrittskostenversicherung als Rücktrittskosten zu erstatten

BGH, Urteil vom 1.3.2023 – IV ZR 112/22 = WM 2023, 622

In seinem Urteil vom 1. März 2023 beschäftigte sich der BGH mit der Frage, ob nach § 1 Nr. 1 Buchst. a ABRV in der Reiserücktrittskostenversicherung auch aufgewendete Bonusmeilen zu entschädigen sind, die zur Begleichung der angefallenen Reisekosten eingesetzt wurden.

In dem zugrundeliegenden Sachverhalt beglich der Kläger die Kosten für zwei Flüge mit seinen angesammelten Bonusmeilen aus dem Miles & More-Programm des Flugreiseanbieters. Er war in der Reiserücktrittskostenversicherung seiner Frau mitversichert. Krankheitsbedingt konnte er die Reise jedoch nicht antreten und stornierte diese. Der Reiserücktrittskostenversicherer versagte die Leistung unter Verweis auf die Versicherungsbedingungen. Entgegen der Entscheidungen der vorinstanzlichen Gerichte (LG Wuppertal – 9 S 152/21; AG Wuppertal – 39 C 257/20), die dem Versicherer Recht gaben, entschied der BGH nun zugunsten des Versicherten.

Versichert waren laut Vertrag „bei einem Reisepreis bis zu 3.000 EUR unter anderem die Stornokosten bei Nichtantritt der Reise bis zu 80% des Reisepreises“. Der einbezogene § 1 Nr. 1 Buchst. a ABRV sieht eine Entschädigungspflicht des Versicherers bei Nichtantritt der Reise für die vertraglich geschuldeten Rücktrittskosten vor. Über die Formulierung der „vertraglich geschuldeten Rücktrittskosten“ stritten die Parteien.

Nach Auffassung des Versicherers wie auch der vorinstanzlichen Gerichte seien dem Versicherten keine Rücktrittskosten entstanden. Dies ergebe sich aus der Auslegung des Kostenbegriffs. Demnach seien Bonusmeilen, die nicht auf dem Markt handelbar sind und nicht ge- und verkauft werden können, nicht als Kosten zu bezeichnen.

Ebenso seien die Bonusmeilen als reines Kundenbindungsprogramm auch nicht mit für Zahlungsvorgänge geeignetem E-Geld i.S.d. § 675f BGB und des ZAG zu vergleichen. Vielmehr sei der Prämienflug als eine unentgeltliche Zusatzleistung des Bonusprogramms Miles & More einzuordnen (LG Wuppertal, Urt. v. 10.2.2022 – 9 S 152/21).

Zudem biete eine Eröffnung der Erstattungspflicht eine enorme Täuschungsanfälligkeit zulasten der Versichertengemeinschaft. Die Rückgewähr eines Geldbetrages als Versicherungsleistung infolge eines vorgetäuschten Versicherungsfalls würde die Bonusmeilen entgegen des Charakters als nicht geldwerte Gegenleistung handelbar machen. Hierin sahen die Vorinstanzen ein hohes Missbrauchspotential.

Der Versicherte hielt der Argumentation des Versicherers entgegen, für eine Handelbarkeit spreche bereits die Tatsache der Kostenpflichtigkeit zur Übertragung seiner angesammelten Bonusmeilen auf das Meilenkonto seiner Frau, das zur Reisepreisbegleichung benutzt wurde. Zudem habe er die Bonusmeilen einzig durch die Inanspruchnahme kostenpflichtiger Reiseleistungen durch den Reiseveranstalter erst erwerben können.

Der Argumentation der Vorinstanzen schloss sich der IV. Senat jedoch nicht an. Streitentscheidend für ihn war die Auslegung der AVB nach dem Verständnis des durchschnittlichen, um Verständnis bemühten Versicherungsnehmers bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs und ohne Zugrundlegung versicherungsrechtlicher Spezialkenntnisse (st. Rspr. des BGH r+s 2019, 647, 649; VersR 2019, 542 Rn. 15; VersR 2017, 1076 Rn. 26). So würde ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer § 1 Nr. 1 Buchst. a ABRV dahingehend auslegen, dass unter den „vertraglich geschuldeten Rücktrittskosten“ die jeweils von ihm konkrete vertragliche Gegenleistung zu verstehen sei. Darunter würde er auch sonstige Vermögenseinbußen verstehen. Ohne Spezialkenntnisse sei für den Versicherungsnehmer eine Beschränkung dieses Begriffs auf Geldzahlungen und handelbare Wirtschaftsgüter nicht ersichtlich.

Die Einschränkung der fehlenden Handelbarkeit würde sich nach Verständnis des durchschnittlichen Versicherungsnehmers auch deshalb nicht ergeben, weil die Bonusmeilen für ihn selbst sehr wohl werthaltig seien, kann er sie doch im Rahmen des Bonusmeilenprogramms als Gegenleistung für Produkte des Reiseanbieters einsetzen.

Ein weiteres Argument für die Entscheidung des Senats war der Zweck der Reiserücktrittskostenversicherung: Der Versicherte wolle sich gegen Unwägbarkeiten und finanzielle Risiken absichern, die mit der Buchung einer Reise lange im Voraus einhergehen (Benzenberg in Looschelders/Pohlmann, 3. Auflage 2017, Anh. N Rn. 101; Steinbeck in MAH Versicherungsrecht, 5. Auflage 2022, § 30 Rn. 27). Die Abfederung dieses Risikos umfasse auch sämtliche getätigten sonstigen Aufwendungen, die infolge des krankheitsbedingten Nichtantritts der Reise nutzlos geworden sind (vgl. auch BGH VersR 2017, 1012 Rn. 25).

Dem vorgetragenen Schutzbedürfnis der Versichertengemeinschaft vor Missbrauch durch Vortäuschen des Versicherungsfalls hielt der BGH entgegen, dass ein Wille zur Beschränkung des Leistungsversprechens für diesen Fall in den Versicherungsbedingungen nicht zum Ausdruck komme.

Das Verfahren wurde vom BGH zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. Über die konkrete Höhe der auszuzahlenden Bonusmeilen muss damit noch entschieden werden. Einmal mehr stärkt der BGH den Schutz des Versicherten durch die restriktive Auslegung von Allgemeinen Versicherungsbedingungen.

Wilko Gerber

BGH: Der Begriff „Erdrutsch“ umfasst auch eine visuell nicht wahrnehmbare Bewegung von Gesteinsmassen

BGH, Urteil vom 9.11.2022 – IV ZR 62/22 = NJW 2023, 366

Mit dem Urteil des IV. Zivilsenats des BGH vom 9. November 2022 wurde eine umstrittene Frage rund um die Absicherung von Elementarschäden im Bereich der Elementar- sowie Wohngebäudeversicherung geklärt. Streitgegenstand war die genaue Definition der Anforderung eines Erdrutsches aus versicherungsvertragsrechtlicher Sicht. Hierbei handelt es sich um einen Streitstand, der bereits in Rechtsprechung und Literatur ausgetragen wird.

I. Sachverhalt des Urteils

Das versicherte Grundstück des Klägers liegt am Rande einer aufgeschütteten Terrasse. Im Jahr 2018 zeigte dieser bei dem beklagten Versicherer eine Rissbildung an seinem Wohnhaus und seiner Terrasse an. Diese sei durch nicht augenscheinlich wahrnehmbare Rutschungen des Untergrundes von wenigen Zentimetern pro Jahr entstanden. Die daraus entstehenden Beseitigungskosten möchte der Kläger als Vorschuss aus seiner Wohngebäudeversicherung (WGB F 01/08) geltend machen. Der Versicherungsschutz deckt Schäden durch Elementargefahren, darunter Erdrutsche, ab. Einen Erdrutsch definieren die WGB F 01/08 in K7:

„Erdrutsch ist ein naturbedingtes Abgleiten oder Abstürzen von Gesteins- oder Erdmassen.“

In den Vorinstanzen (LG Bamberg, Urt. v. 18.3.2021 – 41 O 301/20; OLG Bamberg, Urt. v. 27.1.2022 – 1 U 127/21) war der Kläger erfolglos. Das Berufungsgericht lehnte das Leistungsbegehren mit der Begründung ab, es fehle bereits an einem Erdrutsch, da dieser gerade einen sinnlich wahrnehmbaren Vorgang beschreibe, der vorliegend nicht gegeben sei.

II. Der Streitstand in Rechtsprechung und Literatur

Im Wesentlichen geht es also darum, ob ein Erdrutsch versicherungsrechtlich eine sinnlich wahrnehmbare Bewegung des Erdreichs erfordert oder bereits ein allmähliches Vonstattengehen ausreichend ist. Ein Erdrutsch wird in den Bedingungswerken allgemein als ein naturbedingtes Abrutschen oder Abstürzen von Erd- oder Gesteinsmassen der Erdoberfläche definiert (Günther in Langheid/Wandt, VVG, Band 3 2. Teil 3. Kapitel Elementarschadenversicherung Rn. 76; Schneider in MAH VersR, § 6 Wohngebäudeversicherung Rn. 127). Eine genaue Umschreibung des Abrutschens oder Abstürzens fehlt hingegen. Aus der Rechtsprechung und Literatur gehen hierzu im Wesentlichen zwei Ansätze hervor.

1. Erdrutsch als sinnlich wahrnehmbares Ereignis

Teils, wie es auch im vorliegenden Fall das Berufungsgericht vertritt, werden die Begriffe als schnelle und zeitlich umgrenzte Erdbewegung verstanden, sodass der Erdrutsch für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer wahrnehmbar sein muss (LG Bamberg,Urt. v. 18.3.2021 41 O 301/20 = r+s 2021, 276, vgl. Schneider in MAH VersR, § 6 Wohngebäudeversicherung Rn. 131). Ein sich langsam ablösender Erdteil, gleich welcher Größe, werde erst dann zum Erdrutsch, wenn sich ganze Teile lösen und in Bewegung geraten (OLG Düsseldorf, Urt. v. 12. 7. 1983 – 4 U 247/82 = r+s 1986, 14; LG Bamberg, Urt. v. 18.3.2021 41 O 301/20 = r+s 2021, 276).

Dafür spreche der Wortlaut „Rutschen“, der zwar keine Plötzlichkeit fordere, doch jedenfalls eine nicht unwesentliche Erdbewegung (LG Bamberg, Urt. v. 18.3.2021 41 O 301/20 = r+s 2021, 276; Günther in Langheid/Wandt, VVG, Band 3 2. Teil 3. Kapitel Elementarschadenversicherung Rn. 77a). Der durchschnittliche und verständige Versicherungsnehmer interpretiere ein Rutschen schließlich nicht als allmählichen, länger andauernden und nicht wahrnehmbaren Vorgang (LG Bamberg, Urt. v. 18.3.2021 41 O 301/20 = r+s 2021, 276; Günther in Langheid/Wandt, VVG, Band 3 2. Teil 3. Kapitel Elementarschadenversicherung Rn. 77a). Sonst sei das Ereignis schließlich mit Worten wie „Kriechen“, „Bewegen“ oder „Verlagern“ zu beschreiben, die eine langsame und beständige Bewegung umschreiben (LG Bamberg, Urt. v. 18.3.2021 41 O 301/20 = r+s 2021, 276). Insbesondere die Geologie verwende für solche Vorgänge den Begriff des „Erdkriechens“ (OLG Bamberg, Urt. v. 27.1.2022 – 1 U 127/21).

Auch aus dem Vergleich mit anderen versicherten Elementarschäden, wie Lawinen, Überschwemmungen oder Vulkanausbrüche, erkenne der durchschnittliche Versicherungsnehmer, dass nur ein wahrnehmbares und zeitlich begrenztes Ereignis versichert sei (LG Bamberg,Urt. v.18.3.2021 41 O 301/20 = r+s 2021, 276; vgl. zur Erdsenkung OLG Nürnberg, Urt. v. 18. 6. 2007 8 U 2837/06 = r+s 2007, 329).

2. Erdrutsch als auch allmähliche, nicht sinnlich wahrnehmbare Bewegung

Andere verstehen unter einem Erdrutsch bereits ein allmähliches Bewegen des Erdreichs über einen größeren Zeitraum (OLG Koblenz, Beschl. V. 3.2.2014 – 10 U 1268/13 = VersR 2015, 67). Auf eine Wahrnehmbarkeit der Erdbewegung durch den Versicherungsnehmer wird mithin verzichtet. Dieser Auffassung schließt sich auch der BGH im gegenständigen Urteil an.

Maßstab für die Auslegung von Versicherungsbedingungen sei nach etablierter Rechtsprechung die Perspektive eines durchschnittlichen, um Verständnis bemühten Versicherungsnehmers bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs (vgl. BGH, Urteil vom 01.04.2015 – IV ZR 104/13 = VersR 2015, 617; BGH, Urteil vom 04.11.2020 – IV ZR 19/19 = VersR 2021, 21). Insoweit müsse bei der Auslegung der Versicherungsklauseln der alltägliche Sprachgebrauch berücksichtigt werden, sodass ein Verweis auf den Begriff „Erdkriechen“ der Geologie als unzulässiger Prüfungsmaßstab nicht herangezogen werden könne. Stattdessen erkenne der Versicherungsnehmer, dass der Begriff des Erdrutsches die Komponenten „Abstürzen“, im Sinne einer plötzlichen Bewegung, und „Abgleiten“ von Gesteinsmassen, eine Form des Haftverlustes mit Seitwärts- und Bergabbewegung, umfasse. Letztere Alternative sei gerade keine plötzliche oder sinnlich wahrnehmbare Erdbewegung. Gegenteiliges könne der Versicherungsnehmer insbesondere mangels Klarstellung in den Versicherungsbedingungen nicht erkennen. Auch aus der Definition des Erdrutsches als Bewegung von „Gesteins- oder Erdmassen“ müsse der Versicherungsnehmer nicht schlussfolgern, dass eine gewisse Geschwindigkeit erforderlich sei. Einen Kriechvorgang dürfe er mithin als umfasst ansehen.

Der systematische Vergleich des Berufungsgerichtes zu den übrigen versicherten Risiken, die ihrer Natur entsprechend häufiger plötzlich eintreten, sei nicht passend, da eine gleiche Auslegung des Erdrutsches nicht zwingend sei. Insbesondere gehe aus den Bedingungen nicht hervor, dass – mit Ausnahme des Vulkanausbruchs – die versicherten Naturereignisse gerade eine solche Plötzlichkeit voraussetzen.

Zwar hätte der BGH am 19. November 1956 (II ZR 217/55, VersR 1956, 789) den Begriff des Erdrutsches eng ausgelegt. Doch betreffe diese Entscheidung Risikoausschlussklauseln, die eng auszulegen und nicht vergleichbar mit primären Leistungsbeschreibungen seien.

III. Fazit

Der BGH hat also seinen Standpunkt zu einem lange ungeklärten Streit dargelegt. Seine Auslegung hält sich streng an die gefestigten Auslegungsprinzipien Allgemeiner Versicherungsbedingungen. Nach diesen schlussfolgert der Gerichtshof, dass eine sinnliche Wahrnehmbarkeit oder Plötzlichkeit der Erdbewegung nicht erforderlich und somit der Begriff „Erdrutsch“ weit auszulegen sei.

Luca Kupies